Tagebuch

Peter Hänseler

Dieser Beitrag wurde am 23. Februar 2022 in der Weltwoche veröffentlicht.

Moskau ist eine Riesenstadt mit fünfzehn Millionen Einwohnern – eine pulsierende Metropole, die weit weg scheint, die man jedoch von Zürich per Flugzeug in drei Stunden erreichen kann. Eine Ahnung von dieser Stadt haben im Westen leider nur we­nige. Viele Menschen sind überrascht, wenn man ihnen sagt, dass man dort – freiwillig und mit grosser Freude – lebt und dass Mos­kau in mancher Hinsicht eine der schönsten und bemerkenswertesten Städte der Welt ist. 

Die Dimensionen sind gewaltig. Moskau ist kreisartig aufgebaut. Im Zentrum liegt der Kreml. Um das innerste Zentrum herum kreist der Boulevardring – ein Hufeisen mit einer Länge von 9 Kilometern. Der zweite Ring ist der Gartenring – eine zwölfspurige Autostrasse von 16 km. Dann kommt der drit­te Ring – 35 km. Der MKAD ist der vierte Ring mit einer Länge von 108 km, in etwa Zürich– Bern. Er umschliesst nahezu das Stadtgebiet von Moskau. Der ZKAD schliesslich ist der fünfte Ring. Er ist in der Fertigstellung und wird eine Länge von 340 km haben – so lang wie eine Fahrt von Zürich nach München. 

Die zwei Grossflughäfen liegen im Norden (Scheremetjewo) und im Süden der Stadt (Do­modedowo). Die Fahrt vom einen zum ande­ren Flughafen nimmt etwa gleich viel Zeit in Anspruch wie eine Fahrt von Zürich ins Tes­sin – zirka zwei Stunden. Das sind unvorstell­bare Dimensionen für eine Schweizer Seele. 

Die Entwicklung von Moskau in den letzten zwanzig Jahren war atem­beraubend. Das Graue, die Fabriken, das manchmal Muffige ist verschwunden. Das Zentrum ist wunderschön, sehr grün und randvoll mit Geschichte und Kultur. Moskau ist unglaublich gepflegt. Die Moskauer Polizei ist freundlich und hilfsbereit. 

Wer Kunst liebt, wird sich in Moskau ver­lieben. Wer Musik liebt, kann sich dieser Sucht täglich hingeben zu Kosten und in einer Quali­tät, die selbst einem Zürcher die Tränen in die Augen treiben. Die Menschen, die diese Konzer­te besuchen, tun dies, weil sie Musikliebhaber sind, und nicht, um zu zeigen, dass man kulti­viert ist und dazugehört. Das Ergebnis ist eine einzigartige Atmosphäre in den Konzertsälen, die von Emotion und Begeisterung zeugt. 

Die Infrastruktur funktioniert – Punkt. Die Metro transportiert 8,5 Millionen Menschen pro Tag zwischen Stationen, die für sich selber Kunstwerke sind. Wer gerne zu Fuss geht, wird im Zentrum mit einem Augenschmaus be­lohnt. Prächtige Gebäude und ein Gesamtbild, das von einer beispiellosen Grandezza zeugt. Selbst weltbereiste Architekten sind sprachlos: «ähnlich wie Paris, einfach viel grosszügiger». 

Am Wochenende ist das Zentrum voller Fa­milien und Pärchen – man flaniert, geniesst und parliert. Das Internet funktioniert – Stö­rungen à la Swisscom erlebt man nicht. Das Ver­kehrsproblem wurde durch Disziplinierung ge­mindert. Falschparkierer werden abgeschleppt. Wer dieses Schicksal erfährt, muss sein Auto am Stadtrand abholen und vor allem – im besten Fall – vier Stunden warten. Das hat System. Name der Organisation: Moscow Parking – eine Humoreinlage der Stadtregierung. Glücklich sind die Zentrumsbewohner ohne Auto. 

Gab es vor einem Vierteljahrhundert ein paar wenige und völlig überteuerte Restaurants in dieser Stadt, sind es heute über 20 000. Für jeden Geschmack, jede Küche und jedes Budget gibt es eine riesige Auswahl. 

Shopping. Vom kleinsten Wurstelladen bis zum gigantischen Shopping-Cen­ter gibt es alles. Von billig bis astronomisch teuer. Für das vollendete Einkaufserlebnis braucht der Moskauer – oder vielmehr die Moskauerin – Mailand, New York oder Hongkong nicht. 

Das Wetter in Moskau ist kontinental. Wenn’s schneit im Winter, muss aufgrund der Kälte der weggekehrte Schnee abtrans­portiert werden – dazu sind 40 000 Mann und Tausende Lastwagen und anderes Ge­rät im Einsatz. Im Sommer ist Sommer. 

Das stereotype Bild der Russen ist hart, grimmig, irgendwie bedrohlich. Die Reali­tät ist eine andere. Die russische Seele ist so warm, dass der sibirische Winter keine Chance hat. Obwohl man in Moskau gut mit Englisch überleben kann, öffnet sich die rus­sische Seele mit dem Schlüssel der Sprache. Zugegeben, eine grosse Barriere, da Russisch in jeder Beziehung – Grammatik, Betonung, Schrift – eine Herausforderung darstellt, die man so wenig unterschätzen sollte wie das Land und dessen Bewohner selbst. 

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