Sind die Russen die neuen Juden?
Genau wie in Nazi-Deutschland: Ethnische Gruppe unter Generalverdacht. Eigentumkonfisziert. Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt. Gerichtliche Anhörung verweigert.
Felix Abt
Jeder Vergleich, der sich auf Nazideutschland beruft, ist fragwürdig. Nicht weil er überstrapaziert und auch gegen politische Gegner missbraucht wird, sondern weil er häufig den Holocaust, das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts trivialisiert. Das schließt aber Kritik an Israel nicht aus. Die Holocaust-Keule wird in diesem Fall gerne benutzt, in diesem Fall, um die Berichterstattung über israelische Verbrechen in den illegal besetzten Gebieten zu unterdrücken.
Es gibt jedoch eklatante Ähnlichkeiten zwischen den Russen, die unter dem westlichen Sanktionsregime leben, und den Juden, die unter der Naziherrschaft leben.
Lange vor der berüchtigten Wannsee-Konferenz in Deutschland im Jahr 1942, auf der die «Endlösung der Judenfrage» beschlossen wurde, wie es in der grausamen Verwaltungssprache der Nazis hieß, was nichts anderes bedeutete als die
systematische Ausrottung aller Juden, wurden die ersten Schritte unternommen, die zum Holocaust führten. Nach der ersten Stufe «Du hast kein Recht, als Jude unter uns zu leben», die in «Du hast kein Recht, unter uns zu leben» überging, nannte Raul Hilberg in seinem Buch «Die Vernichtung der europäischen Juden» die letzte Eskalationsstufe «Du hast kein Recht zu leben».
Das soll nicht heißen, dass diejenigen, die dafür plädieren, Russen in Sippenhaft zu nehmen und ihnen das Recht absprechen, «unter uns zu leben», einen neuen Holocaust vorantreiben. Aber die Anfänge der Vorurteile und der Verfolgung der Juden von damals ähneln auf unheimliche Weise den Maßnahmen, die heute gegen Russen ergriffen werden.
Generalverdacht ersetzt Rechtsstaatlichkeit
Die Rechtsstaatlichkeit, eine der wichtigsten Säulen des zivilisierten Zusammenlebens, wurde in Deutschland nach der Machtübernahme durch Hitlers Nazipartei schrittweise ausgehöhlt, vor allem gegenüber wohlhabenden Juden, so wie es derzeit im Westen gegenüber wohlhabenden Russen geschieht. In einem Rechtsstaat gelten Konzepte wie die Unschuldsvermutung. Die Schuld eines jeden muss zweifelsfrei bewiesen werden; niemand muss seine Unschuld beweisen. Besteht ein Zweifel an der Schuld des Angeklagten, muss zu seinen Gunsten und nicht gegen ihn entschieden werden. Und dann muss ein Anfangsverdacht bestehen, der sich nicht allein auf die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe stützen darf. Außerdem ist das Recht auf Eigentum garantiert, was bedeutet, dass niemandem willkürlich sein Eigentum entzogen werden darf.
Im nationalsozialistischen Deutschland stand jedoch jeder Jude unter dem Generalverdacht, seinen Besitz unrechtmäßig erworben zu haben, so dass es möglich war, ihm sein Eigentum kollektiv zu entziehen, ohne ein ordentliches Verfahren und ohne die Möglichkeit, sich zu verteidigen. Auch wenn Juden Konstrukte wie Trusts, Holdings und Outsourcing nutzten – die damals wie heute legal waren, auch wenn sie von Russen genutzt werden -, um ihren Besitz in Sicherheit zu bringen, wurden sie dennoch heftig kritisiert und beschimpft. Solange nicht nachgewiesen werden kann, dass in einem konkreten Fall illegale Handlungen stattgefunden haben, ist daran nichts Belastendes. Wohlhabend und russisch zu sein, kann heute kein ernsthaftes Kriterium für einen Rechtsstaat sein, genauso wenig wie es das sein konnte, als der deutsche Staat gegen wohlhabende Juden vorging. Es reicht nicht aus, einen Russen zu belasten, nur weil er in einer Forbes-Liste auftaucht oder weil er einmal im selben Raum wie Wladimir Putin gesehen wurde.
Früher trugen sie braun, heute tragen sie grün und andere politische Farben: Ursula von der Leyen und andere deutsche Politiker stehen wieder an der Spitze der Bemühungen, einer unter Generalverdacht stehenden Gruppe das Vermögen zu entziehen. Sie liefern auch wieder große Mengen an Waffen in Kriegsgebiete, obwohl das deutsche Recht dies verbietet. Historisch gesehen hat Deutschland eine eher kurze Geschichte als Rechtsstaat, aber seine derzeitigen Machthaber sind erneut bestrebt, ihn zu Fall zu bringen.
Der Kosmopolitismus weicht der zentralisierten Brüsseler Eurokratie: Der Fall der Schweiz
Die benachbarte Schweiz war einst ein Magnet für berühmte Einwanderer aus der ganzen Welt, die die Schweizer Staatsbürgerschaft annahmen. Dazu gehören Albert Einstein, der sich als Jugendlicher in der Alpenrepublik niederließ, dort die Schulen besuchte und als junger Physiker arbeitete und lehrte (bevor er weltberühmt wurde), sowie Lenin, der in Zürich die russische Revolution vorbereitete und von dort aus mit dem Zug nach St. Petersburg reiste, um seine Pläne umzusetzen – mit freundlicher Genehmigung des deutschen Kaisers.
Der deutsche Einwanderer Walter Boveri und der Engländer Charles Brown gründeten den ABB-Konzern in der Schweiz, heute weltweit führend in der Automatisierungs- und Elektrotechnik; der in Frankfurt geborene Heinrich Nestle gründete in der Schweiz das größte Lebensmittelunternehmen der Welt, und der Belgier March Rich gründete in der Alpenrepublik das größte Rohstoffhandels- und Bergbauunternehmen der Welt in der alpinen Republik.
Und 2009 ließ sich der Geschäftsmann Andrey Melnichenko mit seiner Familie in der Schweiz nieder. Er wurde 1972 in Weißrussland geboren. Seine Mutter ist Ukrainerin, sein Vater Weißrusse. In jungen Jahren nahm er an zahlreichen Wissenschaftswettbewerben teil und gewann im Alter von siebzehn Jahren die russische «Physik-Olympiade». Als kluger Unternehmer gründete er im Alter von 21 Jahren zunächst eine Bank und baute dann Produktionsunternehmen auf. Ihm gehören EuroChem, ein weltweit führendes Unternehmen in der Düngemittelproduktion, und Kohleunternehmen. Seine Unternehmen beschäftigen weltweit 130.000 Menschen. Der Hauptsitz seiner Holdinggesellschaft befindet sich in der Schweiz.
Über Nacht wurde er in der Schweiz zur Persona non grata. Die Europäische Union setzte ihn auf eine Sanktionsliste und die vermeintlich neutrale Schweiz, die nicht Mitglied der EU ist, folgte diesem Beispiel und gehorchte. Dabei ist er weder ein Oligarch noch gehört er zu «Putins innerem Kreis», wie die Europäische Union und die Schweiz fälschlicherweise behaupten. Selbst seine Frau, ein kroatisches Model, wurde wegen angeblicher Komplizenschaft sanktioniert.
In einem Interview vom Juli 2022 sagte er der Schweizer „Weltwoche“ (der einzigen europäischen Zeitung die sich für sein Schicksal interessierte): «Ich werde bestraft, weil ich Russe und reich bin.» Melnichenko hatte ein Ehrenamt in der «Russischen Union der Industriellen und Unternehmer» inne. Er erklärte, dass dies die klassische Interessenvertretung privater Unternehmen gegenüber dem Staat sei. Das Instrument nennt man Dialog, institutionalisierten Dialog. In diesem Rahmen habe er zusammen mit anderen Wirtschaftsvertretern an einem Treffen mit Wladimir Putin teilgenommen, den er nicht persönlich kenne und mit dem er noch nie ein persönliches Gespräch geführt habe. Das Foto des Treffens mit Putin und den Vertretern der russischen Wirtschaft, darunter auch Melnichenko, reichte aus, um ihn zu ächten und ihm privat und beruflich schwer zu schaden.
Parallelen zum nationalsozialistischen Willkürstaat: Der Fall Melnichenko
Melnichenko hatte sich mit seiner Frau und seinen Kindern in St. Moritz in der Schweiz niedergelassen, «wegen der Rechtsstaatlichkeit, der Neutralität und der Freiheit», erklärt er. Doch nachdem er nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine im Jahr 2022 auf eine Sanktionsliste der Europäischen Union gesetzt wurde, wurden fast über Nacht alle seine Vermögenswerte, Häuser, Autos usw. in der Schweiz und anderswo in Europa beschlagnahmt. Er und seine Familie dürfen nicht in ihr Haus in der Schweiz zurückkehren, wo seine Kinder zur Schule gingen. In seinem Fall sind der einst hochgehaltene Schweizer Rechtsstaat, die Neutralität und die Freiheit für immer verloren. Die Schweizer Regierung hat nicht einmal auf seine Briefe oder die seiner Anwälte geantwortet. Seine Familie, die in der Europäischen Union und der Schweiz wie Kriminelle behandelt wird, hat inzwischen in den Vereinigten Arabischen Emiraten Zuflucht gefunden.
Allein im Jahr 2021 lieferte Melnichenkos Unternehmen EuroChem 19,1 Millionen Tonnen Düngemittel aus, mit denen 80 Millionen Tonnen Getreide erzeugt und 280 Millionen Menschen ernährt wurden. Da er und seine Frau keinen Zugang mehr zu ihrem Unternehmen haben und es aufgrund der Sanktionen von Banken, Behörden und Geschäftspartnern geächtet wird, ist die Düngemittelproduktion gefährdet und damit die Ernährung von Millionen von Menschen, insbesondere in armen Ländern.
Die Verhängung von Sanktionen der Europäischen Union ohne vorherige Prüfung ist bereits ein Skandal, aber nicht der einzige. Mit diesen Sanktionen, zu denen auch das Einfrieren von 15 Milliarden Franken, die Hälfte davon von der russischen Zentralbank, gehört, untergräbt der Bundesrat auch das bewährte System der Gewaltenteilung. Er agiert als Legislative, Exekutive und Judikative in einem.
Denn die Betroffenen haben keine Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten. Das Parlament hat kein Mitspracherecht. Die Judikative kann nur zuschauen.
Auch den Zentralbanken werden aus zweifelhaften Gründen Mittel entzogen
Selbst das Eigentum von Staaten, wie das Vermögen einer Zentralbank, darf nicht angetastet werden, es sei denn, es ist nachweislich illegalen Ursprungs.
Aber kann das Geld der russischen Zentralbank beschlagnahmt werden, nur weil sie offensichtlich «nahe» an der Putin-Regierung ist?
Das von der Zentralbank verwaltete Vermögen des russischen Volkes ist nicht wirklich für die möglicherweise illegale Invasion des Putin-Regimes verantwortlich zu machen. Außerdem steht das Staatsvermögen unter internationalen Immunitätsschutz. Aber auch das stört die westlichen Regierungen nicht, die das Vermögen, d.h. die Ersparnisse des russischen Volkes, konfiszieren, um es stattdessen dem autokratischen und hochkorrupten Zelenski-Regime in der Ukraine zu geben. Was mit diesen Milliarden in einem Land geschieht, in dem sogar der Oberste Richter des Obersten Gerichtshofs wegen Korruption und Bestechung verhaftet wurde, bleibt ungewiss.
Zwar gibt es eine Resolution der UN-Generalversammlung, wonach Russland für die in der Ukraine verursachten Schäden aufkommen muss, doch ist sie völkerrechtlich nicht bindend. Das einzige befugte Rechtsorgan, das über Enteignungen entscheiden könnte, wäre der UN-Sicherheitsrat, der eine solche Entscheidung nicht mit der erforderlichen Einstimmigkeit treffen wird.
Rückfall in die Stammes- oder Rassenjustiz wie in Nazideutschland
Im Fall von Melnichenko, wie auch im Fall anderer reicher Russen, wurde die Rechtsstaatlichkeit in den westlichen Ländern mit Füßen getreten durch Abschaffung der Unschuldsvermutung, des Rechts auf Selbstverteidigung und die Aufhebung der Eigentumsgarantie.
Wir sollten aus der Behandlung wohlhabender Juden in Nazideutschland lernen, denn die Geschichte wiederholt sich vor unseren Augen:
Erst wollten die westlichen Regierungen den Oligarchen das Geld wegnehmen, dann allen «reichen» Russen. Und jetzt diskutieren sie bereits darüber, jedem, der einen russischen Pass hat, das Geld wegzunehmen.
Eine weitere Analogie ist, dass es eine Hysterie gegen alles Russische gibt, wozu nicht nur Oligarchen und andere reiche Personen gehören, sondern auch die russische Kultur, Musik, Kunst, Literatur und Malerei.
Und nicht zu vergessen: Wie in Nazi-Deutschland kann das Unrecht, das einer stigmatisierten Gruppe unter dem Beifall vieler angetan wird, gegen eine andere verwendet werden. Und auch wenn dies für viele im Moment unmöglich erscheint, ist das Unrecht, das einem zugefügt wird, eine Bedrohung für alle.
Der Autor des Artikels, Felix Abt, ist ein in Asien lebender Schweizer Unternehmer, der in neun Ländern, darunter Nordkorea und Vietnam, gelebt und viele weitere auf allen Kontinenten durchstreift hat, und der nie den Wunsch hatte, andere Menschen zu belehren oder gar zu befreien. Erfreulicherweise ist er bis heute auch nie verhaftet worden. Seine unkonventionelle Lebenserfahrung hat ihm eine etwas unkonventionelle Sicht der Dinge beschert, die der konventionelle Mainstream zensiert, die er aber gerne auf unabhängigen Medienportalen teilt. Er vertritt das Credo, dass man loben muss, wo andere kritisieren, und kritisieren muss, wo andere loben.
Felix Abt betreibt den Blog https://www.easternangle.com/author/felix_ea/
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