Selbstbestimmung der Völker – der Westen biegt das Recht nach Gutdünken
Die Bevölkerung der Krim schloss sich im Februar 2014 Russland an; im April 2014 erklärten sich die Bevölkerungen von Donetsks und Lugansk unabhängig und im September 2022 schlossen sich nach vom Westen als Scheinreferenden bezeichneten Abstimmungen Cherson, Saporischschja, Donetks und Lugansk Russland an. Welche Grundätze des Völkerrechts prallen da aufeinander? Warum befürwortete der Westen die Sezession des Kosovo problemlos und verhöhnt Russland beim gleichen juristischen Sachverhalt: Camp Bondsteel?
Peter Hänseler
Einleitung
Im Zusammenhang mit meinem Research betreffend der Rand Corporation, welcher bald erscheinen wird, bin ich auf eine sehr interessante Frage gestossen.
Der Westen qualifizierte bereits den Anschluss der Krim und die Unabhängigkeitserklärung von Donetks und Lugansk 2014 als völkerrechtswidrig und somit juristisch irrelevant.
Ich bin kein Völkerrechtler und somit kann ich diese völkerrechtlich hochbrisante Frage nicht abschliessend beantworten. Daher beschränke ich mich in diesem Kurzbeitrag lediglich darauf, Fragen zu stellen und darzulegen, dass es sich der Westen mit Schlagwörtern wie «Scheinreferenden» und «völkerrechtswidrig» zu einfach macht.
Abstimmungsergebnisse durch Rand Corporation nicht in Frage gestellt In ihrem Bericht von 2019 «Extending Russia», was frei übersetzt «Russland überfordern» heisst, macht der amerikanische Think Tank Rand Corporation interessante Aussagen.
Die Abstimmungsergebnisse in den Septemberreferenden waren klar: Nach den Ergebnissen, die von der russischen Zentralen Wahlkommission über ihre Abteilungen in der DVR und der LPR veröffentlicht wurden, haben 99,23% (2.116.800 Wähler) in Donezk und 98,42% (1.636.302 Wähler) in Luhansk die Annexion unterstützt. Die Wahlbeteiligung lag bei 97,51% (2.131.207 Wähler) bzw. 94,15% (1.662.607 Wähler).
Selbstverständlich sprach der Westen wiederum von Abstimmungsmauscheleien und bezweifelte die Ergebnisse. Er bezeichnete sie als Scheinreferenden. Dies ist in der gegenwärtigen geopolitischen Situation keineswegs überraschend, sondern zu erwarten.
Dasselbe wurde auch bezüglich der Abstimmungen in der Krim und im Donbass 2014 behauptet, wo ebenfalls über 90% der Bevölkerung den Referenden zustimmten. In dem genannten Bericht aus dem Jahr 2019 stellte die Rand Corporation die Ergebnisse von 2014 jedoch nicht in Frage.
Der beste Beweis, dass die Ergebnisse die Stimmungslage in der Bevölkerung richtig widerspiegeln sind Fakten: Seit 2014 gibt es keinerlei Spannungen in diesen Gebieten unter der Bevölkerung: Ich persönlich war vor dem Krieg dort und kann dies auch nach Gesprächen mit Bewohnern – Russen und Ukrainern – bestätigen.
Somit stelle ich die Ergebnisse der Referenden im September 2022 für den Zweck dieser Abhandlung nicht in Frage.
Selbstbestimmungsrecht der Völker
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein Grundrecht des Völkerrechts. Es ist in der UN-Charta verankert und seit 1966 völkerrechtsvertragsrechtlich anerkannt und gilt somit universell.
Der entsprechende Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte definiert diesen Begriff wie folgt:
«ein Volk [hat] das Recht […], frei über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden.»
Territoriale Integrität
Der Begriff der territorialen Integrität ist ebenfalls in der UN-Charta, Art. 2 Absatz 4 verankert und lautet wie folgt:
Alle Mitglieder unterlassen in ihren inter- nationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Spannungsfeld zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der territorialen Integrität der Staaten
Bereits in den 1970er Jahren befasste sich der bedeutende deutsche Völkerrechtler Karl Doehring eingehend mit dem Spannungsfeld zwischen der territorialen Integrität und dem Grundrecht der Selbstbestimmung.
Nach Doehring hat das Selbstbestimmungsrecht den Charakter eines Notwehrrechts, wenn eine ethnische Gruppe – hier die russischstämmigen Ukrainer – in fundamentaler Weise diskriminiert werden: In diesem Falle stehe ihnen ein Sezessionsrecht zu. Ich versweise auf die Thesen Doerings anlässlich eines Referats von 1974.
Auch der Göttinger Professor Andreas Paulus (bis 2022 Richter am Bundesverfassungsgericht) hat das an einer Veranstaltung des deutschen Bundestags am 17. November 2015 so gesehen.
«Könnten aber Völker nicht mehr frei von Diskriminierung in einem bestehenden System existieren, dann ergebe sich ein legitimer Grund, den bisherigen Territorialstaat zu verlassen und ein neues Staatswesen zu gründen»
Professor Andreas Paulus
Paulus ging ausführlich auf die Konkurrenz der Prinzipien der territorialen Integrität von Staaten und des Selbstbestimmungsrechts der Völker ein. Der territorialen Abspaltung von Landesteilen stünden hohe Hürden entgegen. Sowohl völkerrechtsgeschichtlich als auch in der derzeitigen internationalen Sicherheitspolitik stelle die territoriale Integrität und die Unverletzlichkeit von Grenzen ein sehr hohes Rechtsgut dar, um zwischenstaatlichen Konflikten vorzubeugen oder um diese zu lösen, sagte Paulus.
Könnten aber Völker nicht mehr frei von Diskriminierung in einem bestehenden System existieren, dann ergebe sich ein legitimer Grund, den bisherigen Territorialstaat zu verlassen und ein neues Staatswesen zu gründen, als Ultima Ratio habe man dies im Fall des Kosovos 2008 zugelassen. Paulus machte deutlich, dass es letztlich eine Frage der Zumutbarkeit sei, ob eine Region in einem Staatsverbund bleibe, und dass es einer Abwägung in jedem einzelnen Fall bedürfe.»
Kosovo – Ja! – Krim, Cherson, Saporischschja, Donetsk und Lugansk – Nein!
Die Einzelfallabwägung führte im Falle der Diskriminierung der Kosovo-Albaner dazu, dass eine Sezession vom Westen befürwortet wurde. Dem Notrecht einer diskriminierten ethnischen Volkgruppe wurde in diesem Fall stattgegeben.
Inwiefern wurden und werden die Russischstämmigen in der Ukraine diskriminiert? Hier stützte ich mich nicht auf eine russische Quelle, sondern auf eine Quelle des EU-Parlaments aus dem Jahre 2018. Dort findet man folgende Sachverhaltsbeschreibung:
Im September 2018 habe der Stadtrat von Lviv die öffentliche Aufführung von Werken in russischer Sprache verboten. Das Verbot betreffe unter anderem Filme, Lieder, Bücher, Theaterstücke und Konzerte in russischer Sprache. Zuvor hatte die Ukraine rund 40 Medikamente aus Russland oder mit russischen PILs und Etiketten verboten.
Ein nicht minder schwerwiegender Fall von Diskriminierung wurde aus der Ostukraine gemeldet: Dort will die Stadtverwaltung von Donezk Medienberichten zufolge den Status des Russischen als offizielle Regionalsprache aufheben.
Für eine derartige Diskriminierung der Kosovo-Albaner durch die Serben finden sich keine Anhaltspunkte; vielmehr hatten die Kosovo-Albaner seit Tito eine gewisse Autonomie als serbische Teilrepublik. Dennoch wurde die Sezession der Kosovo-Albaner – auch von der Schweiz – befürwortet und der Kosovo wurde anerkannt.
«Wer behaupten würde, dass amerikanische Militärinteressen die Gründung des Kosovos ermöglicht hätten, wäre ein Schelm.»
Es wird somit mit ungleichen Ellen gemessen. Recherchiert man die amerikanischen Interessen in diesem Zwergstaat, so findet man etwas äusserst Interessantes: Eine amerikanische Militärbasis von gigantischem Ausmass.
Militärische Interessen der USA im Kosovo – Camp Bondsteel
Bild: Wikipedia
Offiziell beträgt die Grösse von Camp Bondsteel im Kosovo 386 Hektaren (955 Acres). Kosovo hat eine Fläche von knapp 11’000 km2. Es scheint jedoch so, dass Camp Bondsteel langsam und inoffiziell wächst und zurzeit bereits eine Fläche von 501 Hektaren (1’240 Acres) aufweist.
Für die Grösse des Kosovos ist diese amerikanische Militärbasis geradezu gigantisch.
Wer behauptet würde, dass amerikanische Militärinteressen die Unabhängigkeit des Kosovos ermöglicht hätten, wäre ein Schelm.
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