Hintergründe und Elemente des Ukraine-Krieges
Hocherfreut dürfen wir das in «Schweizer Standpunkt» erstmals publizierte Interview mit einem echten Militärexperten, dem Schweizer Jacques Baud, veröffentlichen.
Peter Hänseler
Vorwort
Unser Blog schreibt immer wieder über den Kriegsverlauf und auch über die pitoyable Berichterstattung des Westens. Vor ein paar Wochen publizierten wir den Artikel «Verlässliche Quellen für die Kriegsberichterstattung» und zeigten auf, wie VoicefromRussia arbeitet.
Unter anderem erwähnten wir Jacques Baud als Experten und zuverlässigen Militäranalysten, einer der Wenigen im Westen, der der Propaganda nicht verfallen ist.
Wer ist Jacques Baud?
Jacques Baud hat in Genf Internationale Sicherheit und Wirtschaft studiert. Er ist Oberst im Generalstab der Schweizer Armee und arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst. In Brüssel und in der Ukraine nahm er während mehreren Jahren im Auftrag der Nato verschiedene Funktionen wahr. Für die UNO-Friedenssicherung war er vor allem in afrikanischen Ländern im Einsatz. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation. Seine in unabhängigen Medien publizierten aktuellen Analysen zum Ukrainekonflikt finden in Europa und darüber hinaus grossen Anklang.
Einleitung
(30. Mai 2023) Anlässlich einer Reise nach Strassburg, Luxemburg und Brüssel haben zwei Redaktionsmitglieder des «Schweizer Standpunkt» das nachstehende Gespräch mit dem Schweizer Militäranalysten Jacques Baud geführt. Er äussert sich zu den Ursachen des Krieges, zur aktuellen Situation der ukrainischen und russischen Truppen sowie zum Einfluss der USA auf das Geschehen in der Region. In einem zweiten Teil kommen auch Fragen der internationalen Handelsbeziehungen und der Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust der Schweiz im Ausland zur Sprache.
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Schweizer Standpunkt: Herr Baud, wie schätzen Sie die heutige Situation ein? Warum wird nicht verhandelt?
Jacques Baud: Wir sind in einer seltsamen Phase. Im Westen denkt man, dass die Ukraine gewinnt und darum gibt es keinen Grund zum Verhandeln.
Vor kurzem wurde François Hollande, der ehemalige französische Präsident, von russischen Humoristen in eine Telefonfalle gelockt. Indem sie vorgaben, Petro Poroschenko zu sein, brachten sie ihn dazu, vertraulich zu werden und zu erklären, dass «solange die Ukraine gewinnt, es keinen Grund gibt, zu verhandeln». So ist die allgemeine Überzeugung. Die Propaganda ist so stark, dass die Leute nicht einmal merken, dass die Ukraine nicht gewinnen kann.
Warum also verhandeln, wenn man annimmt, dass die Russen in Schwierigkeiten sind, nicht die Ukrainer. Was die Russen betrifft, so hat die bewusste Weigerung der westlichen Länder, die Minsker Abkommen umzusetzen, dazu geführt, jegliches Vertrauen in unsere Aufrichtigkeit zu verlieren.
Minsker Abkommen
Was ist mit den Minsker Abkommen passiert?
Petro Poroschenko, Angela Merkel, François Hollande, und dann auch Zelensky selbst, haben alle gesagt, dass sie nie die Absicht gehabt hätten, die Minsker Abkommen umzusetzen. Was heisst das für die Russen? Die selbsternannten Donbass-Republiken unterzeichneten im September 2014 ein Abkommen mit Kiew (Minsk 1). Kiew hielt sich nicht an das Abkommen und im Februar 2015 wurde ein zweites Abkommen (Minsk 2) unterzeichnet. Deutschland und Frankreich waren die Garanten für die Umsetzung des Abkommens für die Ukraine, Russland war der Garant für die Republiken des Donbass. Darüber hinaus waren auch die anderen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats (die USA, Grossbritannien und China) für deren Umsetzung verantwortlich, da das Minsk-2-Abkommen zur Resolution 2202 (2015) des Sicherheitsrats wurde. Seit dieser Zeit sind jedoch mehr als 10 000 russischsprachige Zivilisten im Donbass ums Leben gekommen.
Die Russen haben alles versucht, um sicherzustellen, dass diese Vereinbarungen umgesetzt werden, da sie dem Schutz der russischsprachigen Bevölkerung dienen sollten. Aber kein westliches Land hat jemals versucht, sie durchzusetzen. Darum sagen die Russen, wenn wir etwas unterzeichnen und das wird nicht eingehalten, wie sollen wir Vertrauen haben.
Wie sieht die Kampfsituation in der Ukraine aus? Was sind die Ziele Russlands?
Man hat den Eindruck, dass es nicht vorwärts geht, zum Beispiel in Bachmut. Die Rhetorik spricht davon, dass Russland die Ukraine besetzen wird. Aber darum geht es nicht. Das Ziel der Russen ist es, die militärische Bedrohung der Bevölkerung des Donbass zu beseitigen. Sie haben die ukrainische Armee im Mai/Juni 2022 materiell zerstört. Seitdem ist die Ukraine bei ihrer Bewaffnung fast ausschliesslich vom Westen abhängig. Die Russen haben daher verstanden, dass dies nicht ausreicht und dass es notwendig ist, ihr menschliches Potenzial zu zerstören. Das ist genau, was jetzt passiert.
Sergey Surowikin hat es im Oktober letzten Jahres klar gesagt: «Wir verfolgen eine andere Strategie. […] Wir suchen nicht nach einer schnellen Vorwärtsbewegung, wir schonen jeden einzelnen unserer Soldaten und ‹zermalmen› den vorrückenden Feind methodisch.» Er verwendet den Begriff «Fleischwolf». Dies führt uns zu den beiden von Putin verwendeten Begriffen «Demilitarisierung» und «Entnazifizierung» zurück. Es handelt sich immer wieder um dieselben Ziele. Das Ziel der «Entnazifizierung» wurde am 28. März 2022 erreicht.
Heute sieht man in den kürzlich veröffentlichten geheimen Dokumenten, was der Ukraine überhaupt noch bleibt. Die Ukrainer hatten im Februar 2022 zum Beispiel etwa 850 T-64-Kampfpanzer, heute können sie nur noch 43 für ihre grosse Gegenoffensive einsetzen. Sie haben sicherlich irgendwo noch ein paar in Reserve, aber die überwiegende Mehrheit wurde von den Russen zerstört. Die Russen haben also ihr Ziel bereits zweimal erreicht, und es ist wahrscheinlich, dass sie es bald ein drittes Mal erreichen werden. Es ist die traurige Realität, obwohl im Westen genau das Gegenteil gesagt wird.
Was wissen Sie zu den Zahlen der Kriegsopfer auf beiden Seiten?
Man redet sich ein, dass die Russen viele Soldaten verloren haben und dass eine Verlängerung des Krieges schnell zu Instabilität in Russland führen wird. Aber auch hier ist das Gegenteil der Fall. Wir gehen von der Annahme aus, dass die Russen zwischen 100 000 und 200 000 Tote zu beklagen haben. Diese Zahlen beruhen jedoch auf nichts. Die genauen Zahlen kennt man nicht, weil weder die Ukrainer noch die Russen ihre Verluste kommunizieren.
Es gibt jedoch ein russisches Oppositionsmedium, Mediazona, das zusammen mit der BBC Zahlen für die russischen Toten eruiert, aufgrund der Todesanzeigen in den Zeitungen. Es handelt sich also um ein prowestliches und sicherlich nicht von der russischen Regierung kontrolliertes Medium, das wahrscheinlich dazu neigt, die Zahl der russischen Toten zu überschätzen. Auf dieser Grundlage kann man jedoch davon ausgehen, dass es zwischen 10 000 und 20 000, aber sicherlich nicht 100 000 Tote gibt. Im Westen zieht man es jedoch vor, sich ausschliesslich auf die ukrainische Propaganda zu stützen. Am 31. Dezember wurde in Kiew der 100 000ste tote Russe proklamiert und dies sogar auf ein Gebäude projiziert. Genau an diesem Tag waren die Zahlen von Mediazona bei 10 000. Das heisst 10mal weniger.
Wenn man die anderen Zahlen hörte, zum Beispiel als im November Ursula von der Leyen in einer Rede davon sprach, dass Hunderttausende Ukrainer gestorben seien, hatte die Ukraine vehement reklamiert. Und diese Aussage wurde sofort zurückgezogen. Aber, ich glaube, dass die Zahl schon richtig war, aber sie hätte das nicht sagen dürfen.
Propaganda als Entscheidungsgrundlage
Woher haben die Amerikaner ihre Informationen?
Die kürzlich in der Presse veröffentlichten geheimen Dokumente geben uns wertvolle Hinweise auf die Quellen amerikanischer Informationen. In Bezug auf die ukrainische Ausrüstung gibt es kein Rätsel, da diese Zahlen grösstenteils veröffentlicht werden. In Bezug auf das eingesetzte russische Potenzial haben die Amerikaner eine intensive Luftaufklärungsaktivität, die es ihnen ermöglicht, einen guten Überblick über die anwesenden Streitkräfte zu haben.
Aber für die Lage der Truppen im Gelände, für die taktische Lage, für die Verluste oder die Operationen der gegnerischen Kräfte, sind Amerikaner und Westler praktisch blind. Es ist offensichtlich, dass sie keine eigenen nachrichtendienstlichen Kapazitäten haben. Ihre einzige Informationsquelle ist die Ukraine. Alles wird also auf der Grundlage von Propaganda entschieden. Das ist für mich das interessanteste Element in diesem Konflikt. Es heisst, die CIA sei tief in den Konflikt verstrickt. Das stimmt, was die Durchführung spezieller Sabotage- und Terroroperationen angeht, ist aber völlig falsch, was ihre analytischen Fähigkeiten angeht.7
Wie gehen Sie bei Ihrer Analyse vor?
Bei meinem Approach geht es nicht um meine Meinungen oder Gefühle. Ich möchte das bestmögliche Bild zeichnen, aufgrund dessen, was vorhanden ist. Zum Beispiel mit der Anzahl der Toten. Es geht um Nachrichtendienstarbeit. Es geht darum, ein möglichst sachliches Bild zu erhalten. Ich höre mir sehr wenig von anderen an und es ist völlig egal, ob das von links oder von rechts kommt.
Nehmen wir John J. Mearsheimer zum Beispiel, er schreibt interessante und wahre Sachen. Er sagt, dass man die Russen von Anfang an belogen hat usw. Das stimmt. Aber dann hat er seine eigenen Vorstellungen des Konfliktes. Diese entsprechen nicht der historischen Realität des Konflikts. Man kann mit seinen Schlussfolgerungen übereinstimmen, aber wenn der Weg dorthin nicht der richtige ist, werden wir den Konflikt nicht lösen können.
Für mich geht es nicht darum, jemanden anzuklagen oder zu entschuldigen. Es geht darum, das richtige Bild zu haben, um die richtige Lösung zu finden. Und deshalb habe ich auch gesagt, die Russen wurden in den 90er Jahren belogen. Das ist der Hintergrund des Konflikts und trägt zur aktuellen Situation bei, aber es ist nicht der Grund, warum Russland in der Ukraine interveniert hat. Das ist wichtig.
Ohne Kriegsziele, ein endloser Krieg
Das steht im Hintergrund, das ist ein Element, das die Kommunikation schwieriger macht. Der zentrale Grund ist jedoch der Schutz der Bevölkerung im Donbass. Deshalb hat Putin so viel Unterstützung für den Schutz der dortigen russischen Bevölkerung. Es geht um diesen Punkt.
Wenn es zu Verhandlungen kommt, werden die Russen ihren Sieg im Gelände sicher ausnützen, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Das ist klar, das ist im Grunde genommen die Theorie von Carl von Clausewitz. Aber um politische Ziele zu erreichen, gibt es andere Methoden. Dies sollte durch die Minsker Abkommen erreicht werden. Das ist der Grund, warum die Russen auf dieser politischen Lösung bestanden haben. Wenn das nicht gelingt, werden sie den Konflikt nutzen, um das Ziel anders zu erreichen. Deshalb diese Logik, eine typische Überlegung à la Clausewitz, die wir im Westen nicht machen. Wir haben zahlreiche Kriege geführt für nichts, ohne klare Ziele.
Wir im Westen haben keine Ahnung, was wir mit der Ukraine erreichen wollen. Wenn wir ihr Glück und ihren Wohlstand gewollt hätten, hätten wir auf die Umsetzung der Minsker-Verträge gedrängt. Das haben wir nicht getan – wir haben sie gedrängt, sich auf einen Krieg vorzubereiten.
Wir verfolgen keine konstruktiven Ziele. Man sieht das an den Kriegen in Afghanistan, Libyen etc., das sind alles Kriege ohne Ziele. Deshalb hat man Mühe nachher einen Frieden, einen Ausweg zu finden. Wenn Sie ein Kriegsziel haben, zum Beispiel, Paris zu besetzen und dann erreichen Sie Paris. Dann ist es fertig, dann haben Sie Ihr Ziel erreicht und Sie sind zufrieden. Wenn Sie aber nicht wissen, was Ihr Ziel ist, dann wird es endlos.
Die Sowjets hatten in Afghanistan ein Ziel: die Einsetzung einer Regierung. Diese hielt zwei Jahre nach ihrer Abreise – bis die Amerikaner sie zusammen mit den Dschihadisten stürzten. Fünfundzwanzig Jahre später hatte die westliche Koalition in Afghanistan kein Ziel: Die Regierung, die sie eingesetzt hatten, brach innerhalb von 48 Stunden nach ihrem Abzug zusammen.
Das ist genau das Problem der Amerikaner und Europäer in Afghanistan wie auch im Irak. Sie haben sich aus dem Irak zurückgezogen, aber was haben sie tatsächlich erreicht? Sie wissen es nicht einmal selbst. Sie haben gekämpft, aber wozu? Sie haben das Land zerstört, aber das war nicht ein Ziel.
Endlose Kriege bringen Terroristen hervor
Man sagt, sie haben das gemacht, um Öl zu haben. Aber das stimmt nicht. Die Ölfirmen, die heute im Irak sind, sind keine amerikanischen Firmen. Das heisst, es war kein Ziel. Wenn man kein Ziel hat, kann man nie gewinnen. Das ist der Grund, weshalb Mali keine Franzosen mehr im Land haben will. Sie führen Kriege ohne Strategie und ohne klare Ziele: Sie töten einfach Menschen, darunter auch unschuldige Zivilisten (und manchmal foltern sie sie auch noch). Das Ergebnis ist, dass für jeden getöteten Menschen zehn neue Widerstandskämpfer entstehen. Das ist endlos.
Darum sagen die Afrikaner mit Recht, warum sind sie überhaupt hier, wenn sie nicht wissen, was sie erreichen wollen. Die heutigen Militärs (auch in der Schweiz) sind keine Strategen mehr, sondern (oft schlechte) Taktiker. Dies zeigt sich in der Ukraine, wo das Militär vom Westen ausgebildet wurde: Es kann mit den Russen nicht mithalten, was die operative Kunst betrifft. Das ist ein zusätzliches Problem für uns.
Das Intermarium, ein aussenpolitisches Ziel Polens
Welche Ziele haben die Polen im Ukraine-Konflikt?
Das ist sehr interessant. Sie haben diese Frage angetönt, diese Divisionen, die bereitstehen, beschrieben im Artikel von Seymour Hersh über die Korruption in der Ukraine. In den 20er Jahren hatte Jozef Pilsudski ein Projekt. Das ist das sogenannte Intermarium [zwischen den Meeren].
Das ist eine Idee, die aus dem ehemaligen Fürstentum Polen und Litauen aus dem 17. Jahrhundert stammt. Heute würde es darum gehen, die Länder zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Mittelmeer in einer Gemeinschaft zusammenzufassen. Das sind die drei Meere. Pilsudski wollte das wieder herstellen. Und ungefähr vor 15 Jahren, Anfang der 2000er Jahre, hat Polen die Neuerschaffung des Intermariums wieder als aussenpolitisches Ziel definiert.8
Im Januar wurde ein Abkommen für Zusammenarbeit zwischen Litauen, Polen und der Ukraine unterzeichnet. Das entspricht dem ersten Lublin-Dreieck, das aus der Vergangenheit stammt. Es handelt sich um ein Bündnis, das eines der ersten Elemente dieses Intermariums sein könnte, das Polen erreichen möchte.
Visegrad-Gruppe mit eigener Kampfgruppe
Da spielt auch die Visegrad-Gruppe mit Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei eine Rolle. Dies ist ein Element des Intermariums. Dafür wurde sogar militärisch eine Visegrad-Kampfgruppe gebildet, eine «Battle Group», die nicht der Nato unterstellt ist. Die gibt es. Man weiss nicht genau, was Polen damit anstrebt. Aber interessanterweise wurde vor kurzem in England und in Deutschland gesagt, dass Polen in zwei Jahren (2025) die zweitgrösste Armee in Europa haben werde.
Da gibt es die Idee, mit Polen zusammen ein selbstständiges Intermarium, ein kleines Europa innerhalb von Europa, zu bilden. Natürlich wollen die Polen den Vorsitz in dieser Gruppe haben.
Im Moment ist es schwierig zu unterscheiden, was Rhetorik und was Realität ist. Es gibt sicher rhetorische Elemente, es gibt sicher auch Echtes, zum Beispiel was in den aussenpolitischen Zielen Polens festgelegt wurde. Das habe ich nicht erfunden. Das heisst, es sind ernsthafte Überlegungen.
Ab und zu werden Stimmen laut, wie zum Beispiel die von Emmanuel Macron, der eine «europäische Verteidigungsarmee» fordert. Das ist reine Rhetorik, das sind nur Worte. Ob es bei den Polen auch so ist, bin ich mir nicht sicher, weil es gewisse konkrete Elemente gibt, wie die Kampftruppe und die neuen Verträge. Es ist schwer vorherzusagen, auf welche Weise sich diese Puzzleteile schliesslich zusammenfügen werden, aber es könnte ein anderes Europa sein als das, das wir im Sinn haben.
Ziele der rechtsextremistischen Gruppen in der Ukraine
Es ist interessant, die Ziele derjenigen zu untersuchen, die Volodymyr Zelensky in der Ukraine unterstützen. Sie sind nicht nur fanatisch, sondern sie haben auch eine Doktrin. Unsere Medien versuchen, ihre Existenz zu leugnen, denn viele Europäer würden ihre Unterstützung für die Ukraine zurückziehen, wenn sie deren Inhalt kennen würden.
Diese Bewegungen sind generell gegen die Europäische Union und bevorzugen die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) (zu der auch die Schweiz gehört). Sie haben erkannt, dass die ukrainische Wirtschaft nicht bereit ist, mit anderen EU-Ländern zu konkurrieren. Auf sehr vielen Demonstrationen der Bevölkerung wird die EU-Flagge mit einem Kreuz durchgestrichen.
Andererseits haben sie auch eine Teilnahme an dem von Polen vorgeschlagenen Intermarium im Auge. Ihre Vorstellung von Europa ist nicht die des Teilens und der Integration, die einige in der EU haben, sondern ein von Nationen regiertes Europa, was sogar gegen die eigentlichen Prinzipien der EU verstösst. Es ist die «Idee der Nation» (das N vereint mit einem I), die auf dem Emblem der AZOV-Bewegung zu sehen ist und die von verschiedenen rechtsextremen Gruppen in der Ukraine und anderswo beansprucht wird. Aus diesem Grund unterstützen sie das Intermarium. Wenn sie sagen, dass sie für Europa sind, meinen sie weder die Europäische Union noch das Europa, wie wir es uns vorstellen können. Es ist das Europa, wie Hitler es sich vorstellte. Das ist der Unterschied. Und das wird in der Doktrin klar gesagt.
Gefährliche Dynamik
Das heisst, wir sind in einer Dynamik, die ich für sehr gefährlich erachte.
Und wir und die Amerikaner unterstützen das. Natürlich ist es für die Amerikaner sehr interessant, wenn Europe kaum mehr funktioniert. Das heisst sie wollen nicht, dass Europa gar nicht funktioniert, aber es soll nicht allzu stark sein. Das ist die sogenannte Wolfowitz-Doktrin.
Das kann man alles nachlesen, Wort für Wort. Man will kein starkes Europa. Europa soll funktionieren, die Leute müssen ruhig sein und normal arbeiten, aber weiter nichts. Europa wird überwacht. Deshalb haben wir alle diese Stimmungen, die man in Europa spürt, vor allem im Osten von Europa. Das wird von den Amerikanern unterstützt, weil das die Kapazitäten Europas vermindert.
EU-Nettoempfänger mit starkem Einfluss in der Nato
Es ist interessant auf der Karte zu sehen, wie die Geldflüsse in der EU sind und wer die Empfänger sind. Auf der einen Seite haben wir Deutschland, Frankreich, Italien, das sind die Nettozahler und alle osteuropäischen Staaten sind die Nettoempfänger. Und das sind genau diejenigen, die ein eigenes Europa haben wollen. Das ist eine seltsame Dynamik. Man sieht, dass der Einfluss dieser Empfänger in Europa enorm gross ist.
Das habe ich persönlich in der Nato festgestellt. Diese Politik wollen die Amerikaner unbedingt unterstützen. Mit anderen Worten, diese Staaten haben mehr Gewicht als Deutschland und Frankreich, die von Anfang an in der Nato waren, aber Amerika gegenüber kritisch waren und vieles nicht mittragen wollten. Deshalb favorisieren die Amerikaner diese osteuropäischen Staaten.
Aggressive, kämpferische Kräfte
Das ist die aktuelle Lage. Es gibt tatsächlich eine Tendenz, die meines Erachtens für Europa gefährlich ist. Es gibt aggressive, kampfbereite Kräfte. Die Polen und diese baltischen Länder sind nicht nur kämpferisch, sondern sie hassen die Russen. Das geht nicht auf den Kommunismus zurück. Der Hass ist viel älter. Das sind sehr konservative Länder, konservativ im schlechten Sinn des Wortes.
Das sind Länder, die immer noch das Dritte Reich bewundern. Es gibt Zeremonien, zum Beispiel von ehemaligen Veteranen. Wenn diese zusammen mit echt demokratischen, offenen Meinungen gelebt werden, habe ich nichts dagegen; wenn ehemalige Kämpfer und Soldaten vom Dritten Reich ihre Erinnerungen bewahren wollen. Aber es wird zu einem Problem, wenn alles in eine Richtung geht und nicht mehr offen ist für andere Perspektiven. Das ist was passiert und dies führt zu einer Polarisierung. Das ist genau, was man heute beobachten kann, und da sehe ich eine gewisse Gefahr.
Welche Verbindungen gibt es nach Kanada?
Da ist einerseits Christya Freeland, Kanadas Vizepräsidentin. Ihr Grossvater war Nazi-Kollaborateur. Tausende Ukrainer sind 1945/46 nach Kanada ausgewandert, weil sie nicht mehr in der Ukraine bleiben konnten, wegen der Sowjetunion. Sie waren Mitglieder der ehemaligen 1. Galizien-Division der SS. Diese Leute sind inzwischen gestorben und sie erhielten als ehemalige alte Kämpfer Statuen in Kanada. Das ist in Europa weitgehend unbekannt. Das sind Denkmäler mit Hakenkreuzen, die Anstoss erregten und zu grossen Problemen führten. Christya Freeland hat sich dafür eingesetzt, dass diese Statuen weiterhin stehen bleiben durften.
Spuren auch anderswo
Ursula von der Leyens Grossvater war ebenfalls ein Nazi und Victoria Nuland ist auch aus der Ukraine. Auch Anthony Blinkens Ur-Grossvater war Ukrainer. Ich glaube jedoch nicht, dass diese Personen heute Nazis sind. Aber die Irrationalität und Emotionalität, mit der der Ukraine-Konflikt geführt wird, scheint zu zeigen, dass diese führenden Politiker in einem Geist des Hasses und der Rache erzogen wurden. Einige haben diese Ablehnung oder Revanche-Haltung gegenüber den Russen, andere gegenüber den Sowjets. Es ist eine Mischung. Es gibt eine Konvergenz gegen Russland. Es besteht dieses ungesunde Verhältnis. Ich nenne es ein bisschen die Revanche der Kinder oder Enkel. Diese Positionen sind seltsam.
Mit dem Irak haben wir dieses Problem gar nicht. Wir haben keine Minister, die aus dem Irak stammen. Aber mit der Ukraine haben wir diese Konstellation von Elementen, die einen geschichtlichen Ursprung haben. Ich sage nicht, dass es dominante Elemente sind, aber sie sind ständig im Hintergrund präsent.
Ukraine erst seit 1991 ein unabhängiges Land
Wenn Putin sagt, die Ukraine wurde künstlich von der Sowjetunion geschaffen, dann stimmt das. Die Ukraine ist erst seit 1991 ein unabhängiges Land. Das sind nur 30 Jahre. Vorher existierte sie nicht. Heute möchte Polen einen Teil haben, Bulgarien möchte einen Teil haben, sogar in Ungarn sagen die Leute, Teile der Ukraine gehören zu uns. Das gleiche gilt für Rumänien und Moldau. Moldau war ein Teil von Rumänien. Das alles ist eine künstliche Kreation der Sowjets, von Stalin. Es ist eine Vereinfachung, wenn man sagt, dass die Russen gegen die Ukraine sind. Es ist viel komplexer. Es sind genau diese Elemente, die nicht nur staatlich gebunden sind, sondern auch kulturell.
«I-N», die «Idee der Nation» ist das Abzeichen des Regiment Asow. Es ist das umgekehrte Emblem der 2. SS-Panzerdivision «Das Reich», die 1943 Charkow «befreite». Aber der Hintergrund ist die Idee der reinrassigen Nation und die «Idee der Nation» ist die Vorstellung der Überlegenheit der Rasse.
Die Nation muss rein sein. Deshalb dürfen keine Russen in der Ukraine sein; sie gehören nicht zur «ukrainischen Nation». Das ist die Position der Rechtsextremisten, die von unseren Medien unterstützt werden und Zelensky unterstützen. Das ist die Logik der «Idee der Nation», es geht um die Frage der Reinheit. Die Reinheit ist ein Element, das im ukrainischen nationalistischen Diskurs immer wieder auftaucht.
Aufgrund dieser rassistischen Idee beschlossen die neuen Herren in Kiew im Jahr 2014, die russischsprachige Minderheit in der Ukraine auszulöschen. Aus diesem Grund hat die Ukraine am 1. Juli 2021 ein Gesetz verabschiedet, das Russen und Ukrainern in der Ukraine unterschiedliche Rechte einräumt. Deshalb berichteten unsere Medien weder über die Opfer im Donbass noch über die Massnahmen, die gegen ethnische Minderheiten ergriffen wurden. Dies war der Grund für die russische Intervention.
«Entdollarisierung» der globalen Handelsbeziehungen?
Nun ein Themenwechsel: Was ist ihre Einschätzung zur aktuellen Diskussion einer möglichen weitgehenden «Entdollarisierung» der globalen Handelsbeziehungen?
Ich sehe das als eine Tendenz. Dies ist sicherlich eine Folge der gegen Russland verhängten Sanktionen, die vielen Wirtschaftsakteuren Angst machen.
Der Dollar bleibt und wird noch einige Jahre lang die wichtigste Währung für den Handel sein. Er ist jedoch eine Bedrohung für die US-Wirtschaft. Das Problem ist das folgende: Wenn Ihre Wirtschaft vom Dollar abhängt, ist sie anfällig für US-Sanktionen. Viele nichtwestliche Länder der Welt haben die Irrationalität unserer politischen Führung im Westen erkannt und versuchen deshalb, ihre Verwundbarkeit gegenüber dem Dollar und dem Euro zu verringern.
Viele Länder haben kein Vertrauen mehr in den Westen. Davon ist auch die Schweiz betroffen. Im letzten Jahr wurden ungefähr 130 Milliarden von der Credit Suisse abgezogen. Es waren insbesondere Länder aus dem Mittleren Osten.
Schweizer Sanktionen gegen Russland als Signal
Die haben sich gesagt, wenn die Schweiz so viele Sanktionen verhängt und auch unsere Gelder konfisziert, dann müssen wir das Geld schnell abziehen. Das ist der Grund. Sie haben Angst. Sie wollen keine Dollars als Reserve haben. Sie haben gesehen, was die Sanktionen mit einer grossen Macht gemacht haben, das könnte ihnen auch jeden Tag passieren. Das gleiche gilt für Saudi-Arabien. Biden hat gesagt, Amerika will, dass Saudi-Arabien ein Pariastaat wird. Deshalb die Abkehr vom Dollar.
Saudi-Arabien und der Iran führen Gespräche
Sie haben bemerkt, dass der Westen ausschliesslich nach seinen eigenen Interessen handelt. Genauer gesagt handeln die USA nach ihren Interessen und die Europäer sind nicht in der Lage, sich zu widersetzen und sind gezwungen, mitzumachen. Das hat man zum Beispiel bei Deutschland und der Nord Stream 2-Pipeline gesehen.
Seit dem letzten Jahr diskutiert der Westen darüber, was mit den eingefrorenen russischen Geldern geschehen soll. Sollen wir das Geld behalten, um den Krieg in der Ukraine zu finanzieren usw.? Diese Situation hat natürlich auch andere Akteure beunruhigt, die ähnliche Sanktionen unterworfen sein könnten. Diejenigen, die Geld auf unseren Banken hatten, haben ihr Geld abgehoben.
Ist die Schweiz jetzt in Schwierigkeiten?
Nein, es gibt wahrscheinlich keinen Grund zur Beunruhigung, aber wir haben unsere Situation nicht verbessert. Das ist für mich schon eine Schwächung der Stellung der Schweiz.
Wie ist die Situation Deutschlands und des Westens im Allgemeinen?
Deutschland hat aufgrund seiner Energiesituation eine zusätzliche Konsequenz zu tragen. Ich denke, der Westen hatte geglaubt und gehofft, dass Russland unmittelbar nach der Verhängung massiver Sanktionen zusammenbrechen würde. Das hatte der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire gesagt. Dies ist jedoch nicht eingetreten. Der Westen hat also die indirekten Auswirkungen dieser Sanktionen zu spüren bekommen.
Wenn man sich anhört, was Oleksej Arestowitsch im März 2019 sagte, und die zur gleichen Zeit verfasste US-Strategie zur Destabilisierung Russlands liest, wird klar, dass die USA diesen Krieg wollten. Die anderen sind einfach untertänigst gefolgt und haben die Ukraine nicht für die Interessen der Ukraine selbst, sondern für ihre eigenen Interessen benutzt.
Die Idee war, Russland zum Zusammenbruch zu bringen, um die Voraussetzungen für einen Machtwechsel durch eine unzufriedene Bevölkerung zu schaffen. Dies geschah nicht, weil unsere Entscheidungselemente nicht ausreichend aktualisiert waren. Das Ergebnis war, dass wir uns grundlos von einer billigen Energiequelle getrennt haben. Ich erinnere daran, dass Europa nicht von Russland abhängig ist, sondern von der Energie. Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben lediglich die Forderung von Donald Trump befolgt, der nicht wollte, dass Nord Stream 2 fertiggestellt wird.
Situation Russlands
Russland funktioniert – sogar sehr gut –, weil seine Wirtschaft sehr gut vorbereitet war. Es kann durchaus unabhängig vom Westen überleben. Nach den Erfahrungen von 2014 erwarteten die Russen, dass dies irgendwann geschehen würde. Es ist eines der am wenigsten verschuldeten Länder, und jetzt haben sie noch weniger Schulden. Russland und China sind Länder, die kaum Schulden haben. Und was schwächt ein Land? Die Schulden.
Kann man von einem Krieg zwischen der Nato und Russland sprechen?
Diese Aussage ist unzutreffend. Die Nato als Organisation verfügt nicht über eine von den USA unabhängige Entscheidungsfähigkeit. Daher ist nicht die Nato das Problem, sondern die USA. Offensichtlich handelt es sich um einen Krieg in der Ukraine zwischen den USA und Russland. Die anderen (Nato-Länder, Schweden, Finnland usw.) sind nur «nützliche Idioten», wie Lenin sagen würde. Das Problem ist, dass kein Land in Europa seit 2014 eine korrekte Analyse dieses Krieges vorgenommen hat. Sie zahlen den Preis dafür und werden ihn auch weiterhin zahlen.
Die Schweiz ohne unabhängige analytische Fähigkeiten
Dies wird zum Beispiel durch den Lagebericht «Sicherheit Schweiz 2022» des Nachrichtendienstes des Bundes von Juni 2022 bestätigt. Die Beurteilung des Krieges zeigt, dass sie gar nichts verstanden haben. Null. Ihre Analyse der Situation basiert einfach auf ukrainischer Propaganda. Und es sind solche Dinge, die mir Angst machen, weil sie zeigen, dass wir keine unabhängigen analytischen Fähigkeiten haben.
Man kann sehr wohl die Ukraine unterstützen, oder Russland oder andere Länder, aber dass wir nicht in der Lage sind, das Problem richtig zu beurteilen, das finde ich sehr beunruhigend. Es zeigt, wie man in ein Problem hineinlaufen kann, wenn man nichts verstanden hat. Es ist wie bei einem Kind.
Kann man die Neutralität der Schweiz retten, wenn die Beurteilung der Neutralität auf einem ähnlichen Boden stattfindet?
Die Neutralität ist ein komplexes Problem.
Eine Aussenpolitik wird auf der Grundlage nationaler Interessen bestimmt. Das ist unilateral. Aber die Neutralität ist nicht unilateral. Da ist das Problem. Neutralität funktioniert auf Grund des Vertrauens. Sie muss glaubwürdig sein. Neutralität ist nicht unilateral, sie ist multilateral.
Übrigens, die Schweizer Neutralität wurde von den Grossmächten 1815 garantiert und bestimmt. Darum wurde diese Neutralität so robust. Wenn andere Länder nicht anerkennen, dass wir neutral sind, dann können wir nichts machen. Man kann nicht verlangen, dass zum Beispiel der Iran Vertrauen in uns hat. Sobald die Neutralität oder das Vertrauen und vor allem die Glaubwürdigkeit nicht mehr vorhanden sind, kann man sie nicht einseitig durch eine kurzfristige Politik wiederherstellen. Es braucht Zeit, um das Vertrauen wiederherzustellen.
Eigene Vorurteile überwinden
Wieso ist unsere Lagebeurteilung nicht unabhängig?
Es ist wie mit dem Terrorismus. Bei der Beurteilung einer Lage ist es das Schwierigste, seine eigenen Vorurteile zu überwinden. Das ist das grösste Problem, das wir haben. Wir können uns nicht von unseren Vorurteilen lösen. Heute sind es die Russen, die sowieso die Bösen sind, damals waren es die Sowjets. Es wird von Diktatur gesprochen. Wenn ich mir jedoch anschaue, was derzeit in Frankreich passiert, kann man sich fragen, was das Wort «Diktatur» wirklich bedeutet.
Diese Krise ist wichtig, weil sie uns zeigt, dass es sich nicht nur um ein Problem zwischen der Ukraine und Russland handelt, sondern auch um die Schwäche unserer Gesellschaft. Wenn das Schliessen eines Twitter-Accounts bei uns als normal eingestuft wird – wenn es andere tun aber nicht –, dann haben wir ein sehr begrenztes Verständnis von Demokratie.
Aber das ist nicht neu. Ich bin zwar in keiner Partei, aber bei uns in der Schweiz sieht man, dass einige kaum noch reden dürfen. Demokratie ist vor allem die Fähigkeit, die besten Argumente vorbringen zu können.
Wenn jemandem das Reden verboten wird, bedeutet dies, dass ich nicht genügend Argumente habe. Das ist keine Demokratie mehr. Diese Krise zeigt dies deutlich und das ist unsere Schwäche.
Ich erinnere Sie an das Zitat, das Voltaire (wahrscheinlich fälschlicherweise) zugeschrieben wird: «Ich bin nicht mit Ihnen einverstanden, aber ich werde bis zum Tod dafür kämpfen, dass Sie es sagen können».
Leider sind wir nicht mehr an diesem Punkt. Wir werden von sehr jungen Spitzenpolitikern ohne Lebenserfahrung und ohne Kultur gelenkt, die so narzisstisch sind, dass für sie Demokratie bedeutet, so zu denken wie sie.
Herr Baud, herzlichen Dank für Ihre interessanten Ausführungen und Ihren Einsatz.
Hier der Link zur Erstveröffentlichung.
(Brüssel, 18. April 2023/DS+UC)
16 Kommentare zu „Hintergründe und Elemente des Ukraine-Krieges“