Brief aus Moskau
Alle haben Verwandte und Freunde – die Ukrainer in Russland und die Russen in der Ukraine.
Peter Hänseler
Dieser Artikel erschien am 16. März 2022 in der Weltwoche
Man wird keinen Russen finden, der nicht Verwandte, Freunde oder Bekannte in der Ukraine hat. Das macht den Konflikt für beide Völker so grausam. Wie steht es dieser Tage um die ukrainisch-russische Bande auf persönlicher Ebene? Ich habe mich in meinem Bekanntenkreis umgehört. Es sind Leute aus dem russischen Mittelstand, die in Moskau, Tula, Krasnodar und in Sibirien leben. Die meisten von ihnen sind Familienväter zwischen 35 und fünfzig.
Sie sprechen täglich mit Freunden in der Ukraine. Es seien Gespräche der Sprachlosigkeit, ohne Hass, aber auch ohne Verständnis für die Führung beider Länder, wird mir berichtet. Einig sei man sich in der Einschätzung, dass der sogenannte Euro-maidan 2014 ein amerikanischer Coup gewesen sei. Eine stabile, nicht unbedingt geliebte Regierung sei durch zwei Halunken ersetzt worden, erst Petro Poroschenko, dann Wolodymyr Selenskyj.
Der Beweis der amerikanischen Täterschaft lasse sich am einfachsten auf Youtube mit der Eingabe «Victoria Nuland phone call» finden. Das Video zeige, wie die amerikanische Diplomatin – gemeinsam mit dem damaligen amerikanischen Botschafter – das Schicksal der Ukraine besiegelt habe. Poroschenko und Selenskyj würden nicht die Interessen des Landes vertreten. Vielmehr hätten sie ihr Volk vorsätzlich in einen Krieg getrieben. Diesem ungeheuerlichen Vorwurf müsse sich Präsident Putin nicht stellen.
Trotzdem muss sich Putin auch Kritik gefallen lassen – allerdings anders, als man im Westen vermutlich glaubt. Meine Gesprächspartner finden, Putin hätte bereits 2014 in der Ukraine eingreifen sollen. Auf die Frage, wie das zu bewerkstelligen gewesen wäre, folgt Schweigen.
All meine russischen Gesprächspartner sagen, ein amerikanischer Nato-Satellit an ihrer Westgrenze sei «inakzeptabel». Dieses
Wort hat auf Russisch eine andere, sprich absolutere Bedeutung als im Deutschen oder Englischen. Offenbar ist das im Westen unbekannt. Jedenfalls hätten weder Europa noch die Amerikaner die Position der russischen Regierung ernst genommen, klagen meine Bekannten.
Die russische Regierung erhält bessere Noten. Sie habe ihre diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft, selbst nachdem die USA und die Ukraine am 10. November 2021 in Washington die «US-Ukraine Charter on Strategic Partnership» unterzeichnet hatten.
Dieses Abkommen findet in der westlichen Presse praktisch keine Erwähnung. Es hat die «volle Integration» der Ukraine in die «europäischen und euro-atlantischen Institutionen» zum Ziel, sprich den Beitritt zur EU und zur Nato. Das ist keine Verschwörungstheorie der russischen Regierung, sondern nachzulesen in der Präambel des Vertragstexts.
Was ist von den Sanktionen zu halten? Meine Gesprächspartner glauben, die Massnahmen hätten einerseits keinen Einfluss auf die Meinungsbildung und Strategie der russischen Regierung, würden jedoch andererseits 150 Millionen Russen, die in die Entscheidungen der Regierung nicht eingebunden gewesen seien, schwer treffen.
Interessanterweise sind die meisten der Ansicht, die Konsequenzen dieser Sanktionen seinen für Europa schlimmer. Dort sei ein wirtschaftliches Fiasko zu erwarten. Schadenfreude darüber ist keine zu spüren, wohl weil die Russen eine Europhobie nicht kennen oder zulassen.
Mit der Aussage unseres Bundesrats, die Schweiz sei trotz Verhängung der Sanktionen weiterhin ein neutrales Land, entlockte ich einem meiner Gesprächspartner ein einziges Mal während der ganzen traurigen Unterhaltung ein Lachen, wenn auch ein bitteres.
Dass die Russen auch in schwierigen Zeiten nie den Humor verlieren, belegten zwei Aussagen: Der Rückzug von McDonald’s und Coca Cola sei amerikanische Direkthilfe zur Förderung der russischen Volksgesundheit.
Und in Musikkreisen kursiert, den Entscheid des Cardiff Philharmonic Orchestra betreffend, Stücke des russischen Komponisten Tschaikowsky nicht mehr zu spielen, das Bonmot: «Wo ist Cardiff – haben die ein Orchester?»