Brief aus Moskau
Peter Hänseler
Situationsbericht nach 6 Monaten Krieg.
Dieser Artikel erschien am 28. September 2022 in der Weltwoche
Wie sieht es aus in Russland nach sechs Monaten militärischem Konflikt in der Ukraine und einem Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland? Das Leben hat sich trotz der Wirtschaftssanktionen nicht gross verändert. Ich kann für Moskau sprechen, und ich spreche mit Menschen, die ich kenne, in Tula, Sankt Petersburg und Sibirien.
Die Regale in den Läden sind voll. Ich kaufe pro Woche zweimal selber ein, dies in Läden, wo der Durchschnittsbürger einkauft. Westliche Produkte wurden teurer, sind jedoch aufgrund von Parallelimporten praktisch alle problemlos erhältlich; nicht nur in Moskau, sondern überall, da in Russland fast alles über das Internet bestellt werden kann.
Jüngere sind pro Putin
Die Preise in den Läden geben langsam wieder nach. Vorletzte Woche senkte die russische Zentralbank den Leitzins um weitere 0,5 Prozent auf 7,5 Prozent. Dies aufgrund der rückläufigen Inflation, die heute bei knapp 12 Prozent liegt. Laut Aussagen der russischen Zentralbankpräsidentin Elvira Nabiullina von vergangener Woche soll sich die Inflation 2023 in Richtung 6 Prozent bewegen.
Die Notenbankpräsidentin führte aus, dass sich die wirtschaftliche Situation besser entwickelt habe, als von ihr angenommen. Die Import-Export-Situation passe sich den neuen Realitäten an, was langsam, aber stetig voranschreite. Weiter hat sich der Rubel nicht nur von den anfänglichen Turbulenzen erholt, sondern liegt – etwa gegenüber dem Euro – auf dem Höchststand seit acht Jahren. Gegenüber dem Euro ist der Rubel deutlich stärker als am Tag vor dem Einmarsch in die Ukraine. Da sich Russlands Währung im Handel mit asiatischen Ländern immer stärker etabliert, ist diese Entwicklung nachhaltig. Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, gehören zur Mittelschicht, sind meist bestens gebildet, mehrsprachig, und sie verfolgen die westlichen Medien. Das ist übrigens problemlos möglich, während im sogenannt freiheitlichen Westen russische Quellen blockiert werden. Die Russophobie, die sich in westlichen Medien breitgemacht hat, bleibt hier nicht unbemerkt, führt jedoch nicht zu Hassgefühlen bei den Russen, sondern eher zu Sprachlosigkeit, weil sie nicht verstehen, dass im Westen nicht zwischen Politik und Menschen unterschieden werden kann.
Die Visarestriktionen der EU sind der beste Beweis für dieses Sanktionsfieber mit Blick auf alles Russische, und selbstverständlich übernimmt die Schweiz auch das tel quel.
Meine Freunde, Bekannten und Verwandten sind zwischen dreissig und 95 Jahre alt. Die Jüngeren, die Präsident Putin am kritischsten gegenübergestanden sind, betrachten den Westen nun mit mehr Argwohn als zuvor, als für sie alles Westliche gut und cool war. Jene Generation, welche die äusserst positive Entwicklung Russlands unter Präsident Putin bewusst im eigenen Leben mitbekommen hat, ist in der grossen Mehrheit pro Putin – das ist der Hauptharst der arbeitenden Bevölkerung. Die Alten und die ganz Alten, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt oder sogar mitgemacht haben, sind Felsen in der Brandung dieser Gesellschaft und haben einen grossen Einfluss in ihren Familien.
Vergleicht man die jetzt durch die Sanktionen verursachten negativen Einflüsse mit dem Kollaps von 1998, als die gesamten Finanz- und Sozialstrukturen einbrachen und ein Sturm durchs Land fegte, muss man die heutige Situation eher als milde Brise bezeichnen. Hinzu kommt die Widerstandsfähigkeit der russischen Seele. Insgesamt steht die Mehrheit der Russen hinter Präsident Putin: Das westliche Sanktionsfieber hat diese Tendenz eher verstärkt.
Russische Energie als Trumpf
Zudem bringen jene Länder, die Russland sanktionieren, lediglich 15 Prozent der Weltbevölkerung auf die Waage. Somit machen die Regierungen von 85 Prozent der Weltbevölkerung nicht Front gegen Russland und sind unter anderem rege Abnehmer der russischen Energie.
Die Ankündigung der Referenden in vier Regionen und die Teilmobilmachung werden die Stimmung nicht nachhaltig verändern. Am Tag der Anordnung der Teilmobilmachung gab es Verunsicherung, und einige Reservisten versuchten, sich in Ausland abzusetzen. Das war schon immer so; auch in den USA, als sich selbst spätere Präsidenten ihrer Dienstpflicht während des Vietnamkriegs entzogen.
Die Referenden werden im Westen als Scheinreferenden bezeichnet. Das sehe ich anders, da für Putin Gebiete problematisch sind, deren Menschen nicht zu Russland gehören wollen.