Wendepunkte im Ukraine-Krieg

Der Westen will unbedingt, dass Russland verliert. Doch es gibt Hinweise, dass Moskau gewinnt. 

Peter Hänseler

Dieser Artikel erschien am 25. April 2022 in der Weltwoche

Peter Hänseler

Die russische Armee wird von den west­lichen Politikern, Medien und Mas­sen als ein Haufen von Idioten dargestellt, die praktisch seit Tag eins ohne jede nachvollziehbare Strategie den Ukrainern ins Messer gelaufen sind und von den Helden auf­gerieben werden. Möglicherweise aus Frustra­tion schlachten die Russen Zivilisten ab. Jeder Zweitklässler kann das auf seinem Handy, unterlegt mit coolen Videos, mitverfolgen, aber «James Bond» gibt’s erst mit sechzehn. 

Ich verfolge seit vierzig Jahren Kriegs­geschichte und habe gelernt, dass das, was während der Waffengänge berichtet wird, sehr wenig damit zu tun hat, was effektiv vor sich geht. Ich habe mich daher zum aktuellen Kriegsverlauf bisher nie geäussert – ganz im Gegensatz zu den Experten im Westen, die alle einen direkten Draht zu den jeweiligen Haupt­quartieren zu haben scheinen – beeindruckend! Im Folgenden stütze ich meine Gedanken auf Fakten in der Vergangenheit, auf die Militär­doktrin der Russen und auf Aussagen von Experten, unter anderem Scott Ritter, einem Amerikaner, der am ersten Golfkrieg als Soldat teilnahm und vor dem zweiten Golfkrieg Uno- Waffeninspektor war. Alle hier verwendeten Quellen sind frei zugänglich. Ich weiss nicht, ob vom Folgenden alles stimmt. Es sollte aber reichen, um sich Gedanken zu machen. 

Zwanzig Jahre lang Siegesmeldungen 

Zur Jubelberichterstattung während eines Krieges: Während des Vietnamkrieges wurde die amerikanische Öffentlichkeit erst mal täg­lich über die Erfolge am TV mit zum Teil grau­samsten Bildern informiert, und irgendeines Tages sah man dann die berühmt gewordenen Bilder über die Evakuation von Amerikanern aus Saigon mit Helikoptern. Ein paar Jahrzehnte danach wiederholten sich die Bilder in Afgha­nistan. Die Geschichte zeigt, dass es durchaus möglich ist, dass zwanzig Jahre lang Sieges­meldungen verkündet werden und ein Krieg trotzdem verloren wird. 

Die Russen unterscheiden sich mentalitäts­mässig vom Westen in vielen Belangen, aber in Kriegszeiten zeigen sich frappante Unter­schiede: Die einen informieren und jubeln, um die Masse bei Laune zu halten – die andern des­informieren. 

Die Russen sehen keinen Vorteil darin, herauszuplappern,
was sie wirklich erreichen wollen. 

Die russische Militärdoktrin – Maskirow­ka, entliehen vom Wort Maske – prägte bereits die Kriegsführung der Sowjetunion im Zwei­ten Weltkrieg. Die Russen sehen keinen Vorteil darin, herauszuplappern, was sie wirklich er­reichen wollen und wo sie genau sind. Dabei geht es einfach gesagt darum, eine grosse Palette von Mitteln und Aktionen dazu einzusetzen, den Gegner über die eigenen Pläne, Fortschritte und Fähigkeiten im Unklaren zu lassen. Die Doktrin passt sehr gut zur russischen Mentali­tät. Ein Russe denkt sich immer: Was bringt es mir, wenn ich diese Information preisgebe? 

Der möglicherweise grösste Erfolg dieser Doktrin zeigte sich in der Vergangenheit im Juni 1944 vor der Sommeroffensive Bagration, als die Sowjets es fertigbrachten, die Wehrmacht im Glauben zu lassen, dass die Sowjets nicht die Heeresgruppe Mitte in Weissrussland angreifen würden. 2,3 Millionen Soldaten wurden auf­gestellt, und die Deutschen waren total über­rascht und verloren in sechs Wochen ein Gebiet, das so gross ist wie Deutschland. 

Der Hauptunterschied der russischen Strate­gie in der Ukraine zu dem, was wir etwa im Irak gesehen haben, liegt darin, dass es nicht das Ziel der Russen war, die gesamte Infrastruktur der Ukraine zu zerstören, bevor die Bodentruppen einmarschierten. Das ist wohl auch der Grund, warum die Russen dies eine militärische Aktion und nicht Krieg nennen. 

Die Strategie der USA ist regelmässig eine andere. Die USA bombardierten etwa den Irak während 44 Tagen, was zur totalen Zerstörung der Infrastruktur und zu Tausenden von zivi­len Opfern führte. Erst dann bewegten sich die Bodentruppen, vor allem um eigenes Personal auf Kosten der Zivilisten zu sparen. 

Der Unterschied im Ergebnis der Zerstörung ist frappant. Die Infrastruktur, das Internet und mobile Telefone in der Ukraine funktionieren noch immer. Das Ziel dieser Operation war nach russischen Aussagen die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine, nicht deren Zer­störung. Die Russen nahmen durch diese Taktik in Kauf, mehr Verluste zu haben. Gemäss Scott Ritter stirbt normalerweise für jeden Soldaten ein Zivilist. Obwohl Zivilisten umkommen, stehe diese Zahl jetzt aber bei sieben Soldaten für jeden Zivilisten. 

Wo die Russen in der Ukraine hinkamen, be­mühten sie sich darum, ein gutes Verhältnis mit der Zivilbevölkerung zu haben. Militärrationen wurden verteilt, und ein Tauschhandel ent­wickelte sich. Die ukrainische Regierung betitelt jedoch jeden Ukrainer, der mit den Russen ko­operiert, als Feind und erklärt ihn für vogelfrei, wobei die Entgegennahme beziehungsweise der Handel von Gütern mit den Russen bereits als Verrat gilt. Die Russen behaupten denn auch, dass das Massaker von Butscha nicht von den Russen begangen worden sei, sondern von uk­rainischen Sicherheitskräften, die an den Kolla­borateuren Rache genommen hätten. Diese Ver­sion der Wahrheit wird im Westen nicht einmal diskutiert, weil sie wohl nicht mit dem Wunsch­denken des Westens übereinstimmt. 

Landweg auf die Krim 

Bei der Intervention um Kiew ging es den Rus­sen nicht darum, Kiew einzunehmen, sondern darum, die 100 000 ukrainischen Soldaten um die Hauptstadt zu fixieren – dies gelang mit 40 000 Soldaten, die von Weissrussland her ein­marschierten. Damit wurde verhindert, dass die 100 000 ukrainischen Truppen in den Osten verschoben werden konnten. Dieselbe Taktik wandten die Russen in Odessa an. Die 80 000 ukrainischen Soldaten um Odessa wurden von 30 000 russischen Soldaten aus der Krim fixiert. Gleichzeitig zerstörten die Russen die Waffen­arsenale und Treibstoffdepots der Ukrainer im Westen. Das Ergebnis sei, dass die Russen ihre militärischen Ziele im Osten erreichen könnten, ohne von vom Westen verschobenen Ukrainern gestört zu werden. 

Die einzige Stadt, die von den Russen ein­genommen wurde, ist Mariupol, die strategisch wichtigste Stadt für die Russen. Wer Mariupol kontrolliert, kontrolliert den Landweg von Russland auf die Krim. Ich bezweifle, dass die Russen Mariupol hergeben werden. 

Ob sich das alles so abspielen wird, ist nicht sicher. Aber der Westen, vor allem Westeuropa, sollte sich mit dem Gedanken auseinander­setzen, dass Russland womöglich gewinnt und seine militärischen Ziele durchsetzen kann und wird. Dann ist es an Europa, möglicherweise seine Politik von Eskalation auf Deeskalation umzustellen. 

Wendepunkte im Ukraine-Krieg

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert