Die Schweiz ist in Gefahr

Die Schweiz ändert ihre Haltung bezüglich Neutralität und Rechtssicherheit in Windeseile, um der EU und den USA zu gefallen. Diese Haltung gefährdet das Fundament, auf dem die Schweiz steht. Dieser Artikel betrachtet die Schweiz von aussen. Prof. Dr. Marcel Niggli wird in den nächsten Wochen die Schweiz von innen betrachten.

Peter Hänseler

Peter Hänseler & Adriano Ackermann

Einleitung

Fragt man Menschen auf der ganzen Welt, was die Schweiz in wenigen Worten ausmache, so fallen Worte wie Neutralität, Zuverlässigkeit, Stabilität, Rechtssicherheit, Präzision, Loyalität, Sauberkeit und Reichtum. 

Dieses Essay versucht nachzuweisen, wie das kopflose Agieren unserer Politiker das Fundament der Schweiz nachhaltig gefährdet. Dabei beobachte ich die Schweiz von aussen. 

Mein langjähriger Freund aus der gemeinsamen Assistentenzeit an der Universität Zürich, Prof. Dr. Marcel Niggli, Ordinarius für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Fribourg, wird in einem Folgeartikel, welcher in den nächsten Wochen erscheinen wird, dieses Thema philosophisch aus schweizerischer Sicht behandeln. 

Bewaffnete Neutralität dank dem Hauslehrer des Zaren

Es ist wohl dem Waadtländer Frédéric-César de La Harpe zu verdanken, dass der russische Zar Alexander I. am Wiener Kongress seinen grossen Einfluss geltend machte und verhinderte, dass die Schweiz nach der Niederlage Napoleons I. weder aufgeteilt noch in den Deutschen Bund integriert wurde. Das Resultat war eine selbständige Schweiz mit immerwährender bewaffneter Neutralität. 

De La Harpe war der Erzieher des späteren Zaren Alexander I. in St. Petersburg und hatte zeitlebens einen grossen Einfluss auf den Zaren. Diesem Einfluss De La Harpes ist es zu verdanken, dass die Schweiz in der heutigen Form besteht. 

Frédéric-César de La Harpe und Zar Alexander I. von Russland
Lehrer und dankbarer Schüler

De la Harpe wurde auf der nach ihm benannten Insel «Île des la Harpe» in Rolle auf dem Genfersee ein Denkmal gesetzt. Dort steht ein 13 Meter hoher Obelisk mit der Inschrift des Zaren Alexander I. 

«Je dois tout ce que je suis à un Suisse», 

«Ich verdanke alles, was ich bin einem Schweizer».

Zar alexander I.
«Je dois tout ce que je suis à un Suisse»
Bild: Wikipedia

Ein unbezahlbares Privileg für die Schweiz

Dass die Neutralität ein unbezahlbares Privileg für die Schweiz war, zeigte sich zwei Mal in den letzten hundert Jahren: Ohne den Status der Neutralität wäre die Schweiz sicherlich von den Grauen und der Zerstörung des Ersten und Zweiten Weltkriegs nicht verschont geblieben. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Zyniker. 

Auch der stolzeste Schweizer muss somit einräumen, dass Helvetia – speziell nach 1945 – mit einem riesigen Vorteil an den Start zur Neuzeit nach 1945 ging. Unser Nachbarland Deutschland brauchte Jahrzehnte und riesige Hilfe der USA, um die Schäden und Traumata des Krieges zu beseitigen. 

Die Sowjetunion, welche die grössten Opfer und Schäden aus beiden Weltkriegen zu tragen hatte, wurde vom Westen komplett alleine gelassen und war nicht in der Lage, sich je zu erholen. Präsident Roosevelt versprach Stalin zwar Hilfe für den Wiederaufbau, dessen Nachfolger Truman strich die Hilfe jedoch und begann den kalten Krieg. 

Neutralität und Rechtssicherheit als Einheit

Ist die Neutralität der geopolitische Pfeiler der Stabilität der Schweiz, so ist die Rechtssicherheit der innenpolitische Garant der schweizerischen Stabilität. Beide dieser grossen Eigenschaften haben in den letzten 200 Jahren eine sehr starke Aussenwirkung entwickelt, die den Schweizern Vorteile und grosses Ansehen brachte. 

Die beiden Begriffe bzw. Eigenschaften sind somit für die Schweiz meines Erachtens als einheitliches Qualitätsmerkmal zu verstehen – als Zwillinge.

Die Früchte des Zwillings «Rechtssicherheit-Neutralität»

Finanzindustrie

Dies hatte etwa zur Folge, dass Menschen aus allen Erdteilen ihr Erspartes – oder Teile davon – in die Schweiz brachten. Das liess die Finanzindustrie, welche mit ausländischem Geld überhäuft wurde, aufblühen. Die Schweiz als Hort der Sicherheit. Menschen, welche der Regierung in ihrem Heimatland nicht trauten, vertrauten den zuverlässigen Schweizern. 

Industrie

Vorteile der Neutralität und Rechtssicherheit lediglich als Vorteil für die Finanzindustrie zu verstehen, wäre verkürzt. Diese beiden Pfeiler strahlten auf alles Schweizerische ab. Ausländische Kunden, welche grosse Industrieaufträge vergaben, schauten nicht nur auf die technischen Spezifikationen unserer Produkte, sondern auch auf die Durchsetzbarkeit von Rechtsansprüchen für den Fall eines Streites. In der Schweiz konnten sich Vertragspartner darauf verlassen, dass ihre rechtlichen Ansprüche von der Schweiz geschützt wurden. 

Schiedsgerichtsbarkeit

Aus diesem Grund entwickelte sich auch die schweizerische Schiedsgerichtsbarkeit zu einer Goldgrube für die Schweiz. 

Swiss Arbitration, die Dachorganisation der Schweizer Schiedsgerichtsbarkeit, bringt die wichtigsten Akteure der alternativen Streitbeilegung im In- und Ausland zusammen. 

Stolz weist sie auf die Geschichte der Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz seit 1866 hin.

Der Fall Alabama, das berühmteste internationale Schiedsverfahren in der Geschichte der Diplomatie, das in Genf zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten stattfand, wird hervorgehoben. 

Als einen der Hauptgründe für das Gedeihen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz wird die schweizerische Neutralität wie folgt als Argument verwendet: 

«Aufbauend auf dem Fundament der Schweiz als neutrale Macht und Drehscheibe für internationale Konfliktlösung hat sich die Schweizer Schiedsgerichtsbarkeit in mehr als einem Jahrhundert ihre Glaubwürdigkeit erarbeitet.»

Dieses umfassende Vertrauen, welches die Schweiz über bald 200 Jahre auch auf diesem Gebiet aufgebaut hat, wird verloren gehen. 

Unabhängige Gerichte

Die EU übt auch Druck auf die Schweiz aus, die eigenständige Gerichtsbarkeit aufzugeben und EU-Gerichte als letzte Instanz zu akzeptieren. Dass die Schweiz sich als «unabhängiges» Land auch nur auf eine solche Diskussion einlässt, ist weder nachvollziehbar noch diskussionswürdig. 

Die Zersetzung der Neutralität und der Rechtssicherheit

UNO-Beitritt der Schweiz

Mit dem Beitritt der Schweiz in die UNO im Jahre 2002 begann die Schweiz die Neutralität zu unterwandern. 

20 Jahre später, am 9. Juni 2022, wurde die Schweiz in den UNO-Sicherheitsrat gewählt. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) schreibt dazu

«Der Einsitz als nichtständiges Mitglied in den Jahren 2023/2024 setzt das Schweizer Engagement für Frieden und Sicherheit innerhalb der UNO und in der Welt fort. Laut Bundesverfassung engagiert sich die Schweiz für eine «gerechte und friedliche internationale Ordnung». Dies ist auch das Ziel des UNO-Sicherheitsrats.»

Dieser Schritt sei mit der Neutralität «vollumfänglich vereinbar» wird behauptet und auf einen Bericht des Bundesrates vom 15. Januar 2013 verwiesen. Dass die darin gemachten Behauptungen des Bundesrats zur Neutralität für das Ausland nicht überzeugend sind, hat sich bereits ergeben – dazu weiter unten. 

Druck aus den USA

Es waren die USA, welche in den letzten 30 Jahren den Druck auf die Schweiz immer weiter erhöhte und das berühmte Schweizer Bankgeheimnis zerstörten – unter tatkräftiger Mithilfe der EU. 

Dass diese Strategie der Amerikaner nichts mit hehren Absichten zu tun hatte, ist offensichtlich. Es ging lediglich darum, den Kuchen der Schweiz am sogenannten Off-shore Banking zu verkleinern. Das Geld findet seinen Weg immer. Unversteuertes Geld kommt nicht mehr in die Schweiz. Hört man sich um, wo nicht deklarierte Mittel am einfachsten zu verstecken sind, so fällt der Name des Saubermannes: «Gehen Sie nach Miami!»

EU-Sanktionen

Die Schweiz verliess endgültig den Pfad der Verlässlichkeit im März 2022 als sie die Sanktionen der EU gegen Russland tel-quel übernahm. 

Die Sanktionen betreffen nicht etwa nur Personen, welche dem Kreml nahestehen und «Oligarchen» genannt werden, so wie das anfangs vorgegeben wurde, wobei der Begriff «Oligarch» nirgendwo auch nur ansatzweise definiert wird. 

Vielmehr blockiert die Schweiz Ends aller Ends alles Russische: Jeder Russe ist mittlerweile in der Schweiz suspekt. Umgekehrt auch alle jene Personen, welche in Russland lediglich ihren Wohnsitz haben – ungeachtet ihrer Nationalität. So werden etwa auch Schweizer Bürger im Zweifel grundlos sanktioniert. 

Damit hebelt die Schweiz – auf Verordnungsstufe (sic!) – Grundrechte aus, die sich in der Schweizerischen Verfassung befinden – hier Eigentumsgarantie und Niederlassungsfreiheit.

Einziehung russischer Vermögen

In den USA, der EU – und auch in der Schweiz – wird nun darüber diskutiert, wie man die blockierten russischen Vermögen einziehen könnte. 

In der Schweiz gibt es keine Rechtsgrundlage, russische Vermögen einzuziehen. Das hält Politiker und Medien nicht davon ab, darüber zu diskutieren, ob einfach eine Rechtsgrundlage – post factum – eingeführt werden könnte. 

Der Umstand, dass eine nachträgliche Rechtsgrundlage auch nur in Betracht gezogen wird, lässt die Schweiz meines Erachtens endgültig zur Bananenrepublik verkommen.

Hier rechtfertigt sich ein Hinweis auf dunkelste Zeiten: 

Eine Rechtsgrundlage ist für sich allein nichts wert. Die erste Rechtsgrundlage, welche Adolf Hitler unbeschränkte Macht gab, wurde am 24. März 1933 erlassen, das sogenannte Ermächtigungsgesetz. Juristisch zwar korrekt, aber mit Folgen, auf die wir mit Schrecken zurückblicken. 

Die gesamten Völkermorde an den Juden (6 Millionen) und an der russischen Zivilbevölkerung (16 Millionen) ging unter diesem Verständnis von Recht «rechtens» Vonstatten. Eine Rechtsgrundlage an und für sich ist somit nichts wert, besonders dann, wenn sie post factum errichtet wird. 

Konsequenzen bereits da

Politiker und Medien in der Schweiz unterstreichen beinahe täglich, dass das Verhalten der Schweiz mit der Neutralität vereinbar sei.

Dies zeugt von einer bemerkenswerten Überheblichkeit und Engstirnigkeit. Der Umstand, ob die Schweiz neutral und rechtssicher ist, kann aus der Schweiz nicht herbeigeredet und argumentiert werden; die Tatsache, dass Politik und Medien dermassen viel darüber sprechen, ist ein Indiz dafür, dass sie genau wissen, dass es sich dabei um nicht zielführendes Geschwätz handelt. 

«Roger Federer hat ja auch nicht behauptet, dass er der grösste Tennisspieler aller Zeiten war – er war es.»

Einzig wichtig ist die Tatsache, ob die Schweiz von aussen als neutral betrachtet wird. Es ist das Ausland, welches der Schweiz als neutralen Verhandlungspartner vertraut oder eben nicht. Es ist die internationale Gemeinschaft und Konfliktparteien, welche darüber entscheiden, ob sie die guten Dienste der Schweiz als Vermittlerin in Anspruch nehmen wollen. 

Es sind internationale Vertragspartner von privaten Vereinbarungen, welche sich dafür entscheiden in der Schweiz Schiedsgerichtsverhandlungen abzuhalten. Es sind Ausländer, welche darüber entscheiden, ob sie ihr Vermögen den Banken der Schweiz anvertrauen, da sie der Rechtssicherheit trauen – oder eben nicht. 

Spricht man mit Verfechtern der Sanktionspolitik, welche die Schweiz meines Erachtens zu Kriegspartei macht, so hört man sogar, dass man auf die Russen nicht angewiesen sei. 

«Der Schaden für die Schweiz wird apokalyptisch sein. «

Diese Aussage ist in ihrer Überheblichkeit und Engstirnigkeit nicht zu überbieten: Diese Menschen haben nicht die Fähigkeit, zu beurteilen, was das Ausland ist: Ausland ist nicht die EU, die USA, Japan und Australien; der Rest der Welt, welcher die Sanktionspolitik des globalen Westens nicht unterstützen bringt über 80% der Weltbevölkerung auf die Waage. 

Ein guter Freund von mir – ein thailändischer Steueranwalt – konnte gar nicht glauben, dass die Schweiz als neutrales Land, gegen Russland Sanktionen verhängt: Er wird seinen grossen Klienten aus Asien und dem Nahen Osten nicht mehr raten, Vermögenswerte in der Schweiz zu halten. 

Grosse Firmen und reiche Chinesen und Inder werden sich sehr gut überlegen, ob Sie mit der Schweiz in der Zukunft Geschäfte betreiben oder nicht: Der Schaden für die Schweiz wird apokalyptisch sein. 

Dass die guten Dienste der Schweiz bereits jetzt nicht mehr in Anspruch genommen werden, ist bereits Tatsache: Die ersten – gescheiterten – Friedensverhandlungen im letzten März fanden nicht etwa in Genf, sondern in Istanbul statt. 

Die Lugano Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine vom 4. Und 5. Juni 2022 war ein totaler Rohrkrepierer – niemand von Rang und Namen nahm daran teil. 

Der «weltgewandte» schweizerische Aussenminister Ignazio Cassis, welcher anlässlich der ersten Sitzung des Sicherheitsrates in New York die Chinesen zurechtwies, liess letzte Woche einen Versuchsballon steigen, indem er die Schweiz als Vermittlerin zwischen Russland und der Ukraine in Genf anbot. 

Die Antwort aus Moskau liess nicht lange auf sich warten. Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Zahkarova, äusserte sich knapp und klar wie folgt: 

«Die Schweiz, die sich den illegalen einseitigen antirussischen Sanktionen des Westens angeschlossen hat, ist nach unserem Verständnis kein neutraler Staat mehr und kann keine Vermittlerrolle bei der Lösung der Ukraine-Krise beanspruchen.»

Maria Zahkarova, 23. Februar 2023

Ergebnis

Es ist somit völlig unerheblich, was die schweizerischen Politiker bezüglich der Schweizerischen Neutralität und Rechtssicherheit behaupten – die Welt entscheidet, nicht die Schweiz. 

Letzte Gelegenheit

Noch ist nicht alles verloren. Die schweizerische Bundesverfassung erlaubt es, jedem Schweizer eine sogenannte Volksinitiative zu starten. 

Eine Gruppe von Schweizern, welche die Gefahr für die Schweiz durch das kopflose und überhebliche Agieren unserer Politiker meines Erachtens richtig einschätzen, haben eine entsprechende Volksinitiative gestartet. Es ist der direkten Demokratie der Schweiz zu verdanken, dass die Neutralitätsinitiative möglich wurde. 

«Das Schweizer Volk hat über die Jahrhunderte immer wieder bewiesen, dass es weiser ist als seine Politiker.»

Die Initiative wurde am 8. November 2022 lanciert und benötigt bis am 8. Mai 2023 die Unterschriften von 100’000 Bürgern, damit es zu einer Volksabstimmung kommt. Wird die Initiative angenommen, so erhält die Schweizerische Bundesverfassung einen neuen Artikel: 

Art. 54a Schweizerische Neutralität

1) Die Schweiz ist neutral. Ihre Neutralität ist immerwährend und bewaffnet.

2) Die Schweiz tritt keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis bei. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs.

3) Die Schweiz beteiligt sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten und trifft auch keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegführende Staaten. Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten.

4) Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.

Viele Schweizer Politiker und Medien bekämpfen die Initiative. Dennoch, es ist somit nicht schon alles verloren, aber auch für den Fall der Annahme der Initiative, hat die Schweiz viel Glaubwürdigkeit verspielt. Ich rufe alle Schweizer – auch die im Ausland lebenden Schweizer – dazu auf, diese Initiative zu unterzeichnen, denn das Schweizer Volk hat über die Jahrhunderte immer wieder bewiesen, dass es weiser ist als seine Politiker. 

Die Schweiz ist in Gefahr

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